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Wenn die Digitalisierung Beschäftigte überfordert
Damit Mensch und Maschine sicher zusammenarbeiten, sollten Beschäftigte bei digitalen Neuerungen eingebunden werden. © Getty/Peera Sathawirawong

Digitalisierung : Wenn die Digitalisierung Beschäftigte überfordert

Automatisierung und Digitalisierung können die Arbeit erleichtern, Beschäftigte jedoch verunsichern und überfordern. Ein Betrieb zeigt, wie offene Kommunikation helfen kann.

Kronen, Brücken, Implantate – die Augsburger CADdent GmbH bietet das klassische Portfolio eines zahntechnischen Labors. Doch der Arbeitsalltag vieler Zahntechnikerinnen und Zahntechniker des Unternehmens unterscheidet sich deutlich von dem ehemals handwerklich geprägten Berufsbild. Nur wenige arbeiten noch regelmäßig mit Gipsabdruck und Wachsmesser.

Stattdessen erstellen sie am Rechner digitale 3-D-Modelle. Mit den Daten werden dann der 3-D-Drucker, die „Laser Melting“-Anlage und die CAD- und CAM-gesteuerten Fräsanlagen gefüttert – und die Maschine übernimmt die Fertigung. „Es gibt zwar noch Arbeitsschritte, die nur die menschliche Hand erledigen kann, etwa die Restauration eines Frontzahnes“, sagt der technische Leiter André Biederwolf. „Aber ein Großteil unserer Arbeit ist heute digital.“ Und das bringt auch neue Herausforderungen im Arbeitsschutz mit sich.

Akzeptanz für Veränderungen schaffen

Hervorgegangen ist CADdent aus dem 1965 gegründeten zahntechnischen Labor Rager. Heute agiert das Unternehmen als Zulieferer für andere Dentallabore. Als einer der Vorreiter in Sachen Automatisierung und Digitalisierung kann das Unternehmen schneller und effizienter produzieren als viele andere Betriebe.

Doch eine solche Umstellung ist auch eine Herausforderung – vor allem für die Beschäftigten. Neue Technik, neue Prozesse, dafür müssen Arbeitgebende erst mal Akzeptanz schaffen. „Daher sollten sie ihre Beschäftigten nicht vor vollendete Tatsachen stellen, sondern schon vor und während der Einführung neuer Prozesse offen kommunizieren“, sagt Dr. Marlen Cosmar, Diplom-Psychologin und Leiterin der Stabsstellen am Institut für Arbeit und Gesundheit der DGUV (IAG). „Da reichen keine Floskeln à la ‚Wir kriegen das schon hin‘. Hier gilt es, persönliche Gespräche zu führen und alle Schritte genau zu erklären.“

Digitalisierung: Input von Beschäftigten bei der Gefährdungsbeurteilung einbinden

Ähnlich verfahren Führungskräfte wie André Biederwolf bei CADdent: „Wir setzen uns vorab mit den Teams zusammen, die von den Neuerungen betroffen sind, und gehen dann in die gemeinsame Projektarbeit. Wir bündeln das Wissen von den Führungskräften, der Fachkraft für Arbeitssicherheit – und der Beschäftigten.“

Ihr Input sei auch für die Gefährdungsbeurteilung wichtig. Die sollte mit jeder Veränderung der Arbeitsbedingungen aktualisiert werden. Nur so kann gewährleistet werden, dass alle Gefährdungen durch digitale Neuerungen ermittelt werden.

Neuerungen waren bei CADdent in den vergangenen Jahren zahlreich. Das namensgebende CAD steht für „computer aided design“, CAM für „computer aided manufacturing“. Sprich, Design und Produktion sind heute komplett computergestützt. Auch der 3-D-Druck ist hier Standard, ebenso „LaserMelting“: Metallpulver wird per Laser geschmolzen und auf Basis der digitalen 3-D-Modelle aufgebaut.

Neuen Gefahren begegnen

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Digitalisierung löst Informationsüberlastung und Ängste aus

Dieses Beispiel zeigt eindrücklich: Digitalisierung und Automatisierung verändern den Arbeitsalltag. „Die Veränderungen können Gefühle von Überforderung auslösen. Auch Informationsüberlastung durch automatisierte Prozesse zählt zu den möglichen Gefährdungen. Und daraus kann Stress resultieren“, sagt Psychologin Cosmar.

Hinzu kommt bei manchen Beschäftigten die Sorge, künftig nicht mehr gebraucht zu werden. Das ist nicht ganz unbegründet: In den kommenden 15 bis 20 Jahren könnten 14 Prozent der aktuellen Arbeitsplätze aufgrund von Automatisierung verschwinden. Zu dem Ergebnis kommt eine Studie zur Zukunft der Arbeit der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) aus dem Jahr 2019. Besonders das verarbeitende Gewerbe ist von einschneidenden Veränderungen betroffen: Demnach ist die Beschäftigung in diesem Sektor in den letzten 20 Jahren um 20 Prozent gesunken.

Individuelle Lösungen und Weiterbildungen helfen bei Problemen

„Natürlich bietet die Entwicklung auch Chancen, weil sich neue Berufsfelder entwickeln. Zudem können Betriebe oder auch die Bundesagentur für Arbeit mit Weiterbildungen und Umschulungen unterstützen“, sagt Cosmar. „Aber nicht alle Beschäftigten, die seit 20 Jahren in ihrem Beruf arbeiten, sind bereit für eine große Umstellung.“ Ähnlich war es bei CADdent: „Es gab durchaus Kolleginnen und Kollegen, die weniger technikaffin waren“, sagt Geschäftsführer Manfred Goth.

„Auch hier konnten wir in Gesprächen individuelle Lösungen finden. Manche arbeiten im Zahntechniklabor Rager weiterhin eher handwerklich, für andere haben wir eine neue Aufgabe im Haus gefunden.“ Gleichzeitig ziehe der Fokus auf digitale Technologien auch viele neue Beschäftigte an, so Goth. Vor allem jüngere. Der Altersdurchschnitt liegt mittlerweile bei 30 Jahren.

Digitalisierung menschengerecht gestalten

  • Gefährdungsbeurteilung: Oft werden Gefährdungen aus der Wechselwirkung Mensch-Technik übersehen. Lösungsansatz: Mit jeder Veränderung die Gefährdungsbeurteilung aktualisieren.
  • Physische Belastung: Fehlbelastung durch falsche oder übermäßige Nutzung neuer Technologie. Lösungsansätze: Fachliche Beratung vorab, etwa durch den Hersteller; regelmäßige Evaluation mit Beschäftigten.
  • Psychische Belastung: Neue Prozesse und digitale Informationsflut können überfordern; gleichzeitig kann es Beschäftigte unterfordern, wenn ihnen Aufgaben abgenommen werden. Lösungsansätze: Nicht zu viele Neuerungen auf einmal; Handlungskompetenz erhalten; auf abwechslungsreiche Tätigkeit achten.
  • Sicherheits- und Gesundheitskonzept: Beschäftigte brauchen ein Basiswissen, um gesundheitliche Risiken zu erkennen. Lösungsansätze: Individuelle, regelmäßige Unterweisungen und Schulungen, um Gesundheitskompetenz zu schaffen und Wissen aktuell zu halten.

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Digitale Modelle am Rechner erstellen: Für viele Beschäftigte bei CADdent Alltag. © CADdent

Begeisterung für Digitalisierung darf Risikobewertung nicht überlagern

Aber auch ein junges, hochmotiviertes Team muss gesund und sicher arbeiten. „Ich muss zugeben, dass wir die Anforderungen teilweise unterschätzt haben“, sagt Goth. „Euphorie für Digitalisierung kann auch dazu führen, dass Risiken in den Hintergrund rücken. Beim Thema 3-D-Druck etwa haben wir die Gefährdung durch Feinstaub unterschätzt. Da mussten wir bei den Schutzmaßnahmen nachjustieren.“

Das Bedienen der smarten Maschinen kann dagegen sehr monoton sein, da nur wenige Handgriffe nötig sind. Eine Aufgabe, die bei CADdent meist Industriemechaniker übernehmen. Hier liegt es an Führungskräften wie Biederwolf, für Abwechslung zu sorgen. Denn auch Monotonie und Unterforderung können zu Stress führen und krank machen, so Psychologin Marlen Cosmar.

Sicherheitsbeauftragte sollten bei Veränderungen auf Kolleginnen und Kollegen zugehen

Auch Sicherheitsbeauftragte können dabei helfen, solche Risiken zu erkennen: „Wenn sich Tätigkeiten verändern oder neue Prozesse etabliert werden, sollten sie ihre Kolleginnen und Kollegen noch häufiger ansprechen als sonst, sagt Cosmar.Bevor er Führungskraft wurde, hatte auch der ausgebildete Zahntechniker André Biederwolf das Amt des Sicherheitsbeauftragten inne.

Laut Geschäftsführer Goth sei er den Führungskräften regelmäßig auf die Füße getreten, „und das war gut und wichtig“. Das wünscht sich Biederwolf auch von anderen Sicherheitsbeauftragten: „Natürlich müssen sie nicht jedes Detail kennen. Aber ich finde es wichtig, ein Grundverständnis für neue Technik und die Risiken zu entwickeln, die Digitalisierung und Automatisierung mit sich bringen.“ Ein Grundsatz, der für alle Akteurinnen und Akteure im Arbeitsschutz gelten sollte.